Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) by Geda Fabio

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) by Geda Fabio

Autor:Geda, Fabio [Geda, Fabio]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: E-Books der Verlagsgruppe Random House GmbH
veröffentlicht: 2013-07-21T22:00:00+00:00


Ein kurzer Abriss meines Lebens,

insoweit man sich überhaupt erinnern, die Vergangenheit

rekonstruieren oder imaginieren kann:

was die Erinnerung erhellt

1951–1960

Im letzten Realschuljahr strenge ich mich so richtig an. Gabriele ist auf dem Gymnasium Klassenbester. Ich bemühe mich, nicht der Schlechteste zu sein. Eines Abends höre ich, wie unsere Mutter in der Küche weint. Ich bin mucksmäuschenstill und beobachte sie heimlich. Sie sitzt zwischen Essensresten und schmutzigem Geschirr am Tisch und hat die Hände vors Gesicht geschlagen. Rücken und Schultern beben. Gabriele, der im Flur erstarrt ist, ertappt mich dabei, wie ich meine Mutter belausche.

»Sie weint um unseren Vater«, erkläre ich.

»Von wegen!«, sagt Gabriele. »Sie weint deinetwegen, wegen deiner Zukunftsaussichten. Du hast wieder eine schlechte Note geschrieben, stimmt’s? In einem Aufsatz. Oder in Geschichte.«

»Stimmt, ich habe eine schlechte Note geschrieben. Aber sie weint nicht meinetwegen.«

»Bist du dir sicher? Warum gehst du nicht hin und fragst sie?«

Mein Herz ist mir in die Hose gerutscht, ich berge es mit den Fingerspitzen und betrete die Küche. Unsere Mutter dreht den Kopf, schnieft und wischt sich mit einem Taschentuch über die Augen.

»Weinst du meinetwegen?«, frage ich.

»Nein, Simone, wie kommst du denn darauf?«

»Weinst du, weil ich so schlecht in der Schule bin?«

»Ich weine wegen allem, was ich nicht beeinflussen kann.«

»Nicht du bist für meine schulischen Leistungen zuständig, sondern ich. Bitte verzeih mir, ich verspreche dir, das Schuljahr so gut wie möglich zu beenden.«

Unsere Mutter lächelt, versucht es zumindest, wenn auch ohne Erfolg. »Und was willst du anschließend machen?«

Ich antworte nicht. Aber sie scheint gar keine Antwort zu erwarten, denn auf einmal sagt sie ganz begeistert: »Weißt du, ich habe eine Schule gefunden, die einfach ideal für dich wäre. Im Ernst: Sie ist wie für dich gemacht.« Bei diesen Worten richtet sie sich auf. Mir fällt auf, dass sie die Worte dosiert wie Tropfen eines Schlafmittels. Sie zerknüllt das Taschentuch in ihrer Hand und fährt fort: »Die Schule wird von einer Firma finanziert, die anschließend die besten Schüler übernimmt. Es ist eine technische Ausbildung. Man bearbeitet Gegenstände, Materialien und Substanzen – genau das, was dir gefällt, Simone! Aber sie ist eng mit dem Ort verbunden, an dem sie sich befindet – an dem die Firma ihren Sitz hat, meine ich. Deshalb werden pro Jahr nur wenige Schüler von außerhalb aufgenommen. Die anderen sind alles Einheimische oder Kinder von Angestellten. Du müsstest eine Aufnahmeprüfung machen. Aber ich habe Bekannte dort, Freundinnen. Und die wollen ein gutes Wort für dich einlegen, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass du das gar nicht nötig hast. Weil dort nur deine Lieblingsfächer unterrichtet werden, in denen du ausgezeichnete Leistungen bringst. Aber für den Fall, dass, also nur für den Fall, dass …«

»Wo ist sie?«

Unsere Mutter atmet tief durch. »Was?«

»Die Schule. Der Ort.«

»In Ivrea.«

»Wo liegt Ivrea?«

»Im Piemont. In der Nähe des Aostatals. In der Nähe der Berge.«

»Das ist aber weit weg«, sage ich. »Dann müsste Gabriele die Schule wechseln.«

»Wir würden nicht mitkommen, Simone.«

Mir fehlen die Worte, ich bin wie gelähmt. Die Stille lässt die Wände sekundenlang zurückweichen, dann explodiert sie im flehenden Satz unserer Mutter: »Aber mit dem Zug braucht man nicht lange, höchstens fünf, sechs Stunden.



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